„Vom Angsthund zum Schoßhund“
Mit diesem Bericht möchte ich euch gern die Geschichte von Bracco und seinem Bruder Micco erzählen!
Vorab sei gesagt, dass wir uns im Frühjahr 2019 spontan als Not-Pflegestelle für zwei Fellnasen gemeldet haben, damit ihnen die Umsetzung in ein furchtbares staatliches Canile erspart bleibt. Egal, welches Alter oder wie sie ausschauen, die die es am dringendsten brauchten… das war uns wichtig.
Es war der 13.04.2019… ein Samstag! Schon vorher reiste ich an Ort und Stelle, um ausgeruht morgens meine beiden neuen Fellkinder in Empfang zu nehmen. Ich wusste, dass es eher ängstliche Hunde sind. Im Auto war alles vorbereitet und meine Spannung stieg ins Unermessliche. Was erwartete mich?
Und da kam er dann, der Transporter, mit all den Vierbeinern an Bord, die voller Vorfreude erwartet wurden. Ich erspähte einen Blick hinein, als die Türen sich öffneten. Und da sah ich den ersten meiner Buben… verängstigt kauernd an die hinterste Ecke seiner Transportbox gedrückt. Dann sah ich seinen Bruder… wer wer war, konnte ich zu diesem Zeitpunkt kaum sagen, ich konnte beide noch nicht wirklich auseinanderhalten, das gebe ich ehrlich zu. (Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich Micco zuerst gesehen habe).
Ich öffnete die Box bei meinem Bracco… dieses Häufchen Elend voller Panik und Entsetzen in den Augen zu sehen, schnürte mir das Herz zu. Er drückte sich so weit weg, wie es ihm möglich war, er wich meinem Blick aus… Dieser Moment muss für ihn der Schlimmste überhaupt gewesen sein. Ich legte ihm das Sicherheitsgeschirr an, seinem Bruder Micco dann auch. Dann ging ich gemeinsam mit ihnen, damit sie sich lösen konnten. Es war tatsächlich schon eine erste Verbindung da, sie gingen mit mir mit. Die Leine kannten sie aber vermutlich schon aus der Auffangstation.
Nachdem alles erledigt war, setzte ich sie beide in mein Auto, verabschiedete mich und fuhr los… auf uns warteten 600 km bis nach Hause. Aber das war auch gut so, denn sie haben einfach nur geschlafen, tief und fest, weich und warm, konnten ihre Ängste mal kurz vergessen.
Zuhause angekommen gingen wir wieder Gassi, auch da vorsichtig aber ohne Probleme. Das Zusammenführen mit unseren Hunden klappte auch wunderbar. Dafür war im Haus eigentlich alles gruselig: Der Fernseher, der Geschirrspüler, das Flasche öffnen – einfach alles… wenn wir uns bewegten wurden sie nervös. Und dann schliefen sie wieder. In den ersten Nächten blieb ich bei ihnen, sie kuschelten sich an mich heran, lernten, dass es bei mir nur Liebe, Zuneigung und Futter gab.
Übrigens ist genau das der Schlüssel zum Erfolg gewesen: Die Bindung baute sich langsam, aber stetig durch eben diesen ruhigen Körperkontakt auf. Der erste große Schritt in die richtige Richtung war wohl der Moment, als er Micco und später Bracco von sich aus eine Streicheleinheit einforderten. Es war ein Moment des Glücks, zu spüren, dass sie mir nun vertrauten.
In den ersten Wochen und Monaten machten wir viele Schritte vorwärts, aber doppelt so viele auch zurück. Aber sie wurden sichtlich lockerer, vergaßen ihre Ängste und entwickelten eine Freude am Leben. Beide saßen geschätzte 8 Jahre im Heim, ohne Liebe, ohne wärmende Hände und die regelmäßige Aufmerksamkeit, welche sie so dringend brauchten. Statt dem Menschen zu vertrauen, lernten sie ihnen zu misstrauen. Mit knappen 65 cm Schulterhöhe und guten 30 kg waren beide auch keine kleinen Pfiffis, die man einfach auf den Arm nehmen konnte. Das Futterverhalten zeigte auch schnell, wer auf den Einsatz von Leckerchen gut reagierte. Micco hat immer seinen Napf fein säuberlich leer geschleckt, und gerne Leckerlies angenommen. Bracco hatte in den ersten Wochen arge Vertrauensprobleme beim Fressen, oft fraß er gar nicht und wir machten uns große Sorgen. Er kam wohlgenährt und rund bei uns an und verlor innerhalb weniger Tage deutlich an Gewicht. Wir haben etliche Stunden in der Küche verbracht, um ihm schmackhafte 5-Sterne-Menüs vorzusetzen.
Aber irgendwann hörte es auf, denn er hatte gelernt, dass ihm nicht zustoßen wird, auch wenn er sich bei der Mahlzeit ganz auf sein Fressen konzentrierte.
Sie entdeckten das Rennen, Buddeln, Mäuse jagen und Kuscheln für sich. Das regelmäßige gute Essen wurde immer beliebter und machte sich an Fell und Körper bemerkbar. Wir waren oft so erstaunt, welch riesige Fellbüschel die beiden verlieren und wir haben sie ausnahmslos JEDEN Abend draußen kämmen müssen. Das anfangs talgige, schuppige Fell verlor sich nach und nach. Es entwickelte sich ein gesund schimmernder Glanz auf ihrem Pelz.
Sie strotzten mit mittlerweile ca. 9 Jahren nur so vor Energie. Unser Tierarzt war sich sicher, einen wesentlich jüngeren Hund vor sich zu haben, als er Bracco sah.
Auch das Thema Tierarzt war natürlich ganz speziell, dieser Mensch, der sie untersuchen wollte, war wohl der gruseligste Zweibeiner schlechthin. Bracco wollte beim ersten Tierarztbesuch möglichst zügig aus dem Fenster fliehen – ein Glück war es verschlossen. Micco versteckte sich zwischen meinen Beinen und ließ alles über sich ergehen. Aber schon am Fellverlust konnte man ihren Stress erahnen. Da man nun nicht regelmäßig (im Normalfall) alle paar Tage zum Tierarzt fährt, wird diese Angst wohl auch bestehen bleiben. Aber damit lässt sich leben, da sie weder aggressiv noch abwehrend auftreten. Sie lassen die Behandlung einfach zu und sind froh, dass wir da sind, um sie zu beschützen.
Allgemein ist ihre Angst vor fremden Menschen, Radfahrer, umgekippten Mülltonnen und sonstigen kleinen Veränderungen so tief verankert, dass wir diesen Teil ihres Wesens wohl nicht mehr therapieren können. Aber wir können ihnen diese Panik nehmen, Sicherheit geben und für sie da sein in all den angsteinflößenden Situationen. Es ist zudem nicht unser Anspruch, dass unsere Hunde zwingend gesellschaftstauglich sein müssen und in souverän durch Stresssituationen gehen müssen. Ihre Zufriedenheit und ihr Glück reichen uns völlig aus. Die Bindung, die sie abrufbar macht ist das, worauf es ankommt. Sie sind nicht mehr allein, leben in einem ausgeglichenen Rudel und sind der Witterung (in jeglicher Form) nicht mehr ausgeliefert. Vermutlich muss schon früh in der Prägungsphase etwas passiert sein, dass sich diese ausgeprägte Form der Angst festgesetzt hat. In einer „normalen“ Familie mit Kind und Kegel mitten in der Stadt oder im Vorort könnten Micco und Bracco nicht leben, die äußeren Reize und Geräusche würden ihre Ängste nur mehr verstärken. Zudem der – vor allem bei Bracco – ausgeprägte Jagdinstinkt natürlich händelbar sein muss, die Erfahrung für solche Jagdhunde sollte in diesem Fall gegeben sein.
Bei Segugi-Maremmano-Mischlingen spielt der Charakter in der Ausprägung der Instinkte eine große Rolle. Viele dieser Mischlinge sind wunderbare, freundliche und aufgeschlossene Familienhunde. Mit gutem Training und der Besuch in einer Hundeschule wächst man wunderbar zusammen. Bei den Brüdern wäre ein Besuch in der Hundeschule wohl einem Akt der Misshandlung gleichgekommen.
Auch der Hütewillen und Schutzinstinkt des Maremmanos kommt immer mal wieder durch, sie beschützen lautstark Haus und Hof – solange der Zaun dazwischen ist.
Alles schien gut… bis unser Micco leider urplötzlich an Leptospirose erkrankte, trotz Impfung. 4 Tage lang kämpften wir um sein Überleben – leider haben wir diesen Kampf verloren. Das Schicksal machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Jetzt, wo sein neues Leben endlich richtig begonnen hatte, wurde es ihm so unfair genommen. Wir waren fassungslos und erstarrt vor Schmerz. Im ersten Moment nach dem Begreifen seines Verlusts flackerte ein Gedanke auf, der mich lange quälte. Ich hatte den beiden ängstlichen Brüdern ein Leben in Frieden und Sicherheit versprochen, mit Spaß, Glück und Geborgenheit. Micco nach knapp 7 Monaten zu verlieren, brach mir einfach das Herz. Denn ich konnte mein Versprechen an ihn nicht einhalten. so irrational es klingen mag, aber es fühlte sich an, als hätte ich ihn im Stich gelassen. Bis die Einsicht kam, dass wir einfach machtlos waren gegen diesen Erreger, der ihn so brutal und unvorhergesehen aus dem Leben gerissen hat. Wir haben ihm gezeigt, was Liebe und Geborgenheit beudetet, wie ein richtiges Leben aussehen kann und wir waren bei ihm, als er seine letzten Atemzüge machte. Umgeben von den Menschen, die er liebte und denen er vertraute. Wir haben ihm gut zugesprochen und gestreichelt, ich habe ihm versprochen, dass wir immer auf seinen Bruder aufpassen werden und er es gut haben wird. Wir hoffen sehr, dass wir dieses Versprechen halten können.
Dennoch: Sein Verlust klafft tief, es entstand eine Leere, die nichts zu füllen vermochte…
Bracco trauerte nur wenige Tage um seinen Bruder, suchte ihn nicht mehr lang, denn Halt hatte er durch unsere beiden Vierbeiner (auch beide aus der Rettung) … und natürlich durch uns. Für ihn ging sein Traum weiter.
Mein großer weißer „Babybär“ – wie ich ihn immer nenne – entwickelte sich prächtig weiter, und vor allem entstand eine tiefe, emotionale Bindung zwischen ihm und mir. Er sucht meine Nähe, rennt freudestrahlend und lächelnd auf mich zu und… man sieht ihm sein Glück einfach an. Und ihn weiter zu vermitteln, weil es ja Pflegehunde waren, kam einfach nicht mehr infrage. Das könnt ihr euch denken, oder? Bracco kam aus dem Nichts sozusagen zu uns, hat in seinem Leben viele Ängste durchlitten und eine innere Angst entwickelt, die ihm keiner zu nehmen vermag – ihn in andere Hände zugeben, nach dem er sogar noch seine einzige Konstante – seinen Bruder Micco – verloren hatte, würde wohl an Tierquälerei grenzen. Und wenn wir es uns ganz ehrlich eingestehen, wissen wir auch, dass selbst, wenn Micco noch am Leben wäre, wir beide nicht mehr hergegeben hätten. Aber diese Erkenntnis kam eben erst als es irgendwie zu spät dafür war.
Nun lebt Micco in Bracco weiter, und dass er bei uns ist, ist mein größtes Glück. Solange er lebt, wird er bei uns sein, wird Liebe und Wärme erfahren und keine Ängste mehr durchleben müssen… zumindest nicht allein. Er lebt nun seine zweite Jugend, so wie wir es nennen. Der große Rüde beginnt zu spielen, mit drolligen 5-Minuten durch den Garten zu wetzen und sich direkt im Anschluss wie ein Irrer auf der Couch zu wälzen. Wenn mal eine Hundedame anwesend ist, die nicht fest ins Rudel gehört, lässt er seinen italienischen Charme spielen und verzaubert die Damenwelt – sanft, selbstbewusst und seines gutes Aussehens bewusst. Genauso wie er mein Herz erobert hat.
Und das ist das größte Geschenk: Seine Lebensfreude und seinen liebevollen Charakter zu sehen, ist der Lohn für all die Sorgen, die man anfangs hatte. Und es ist der Lohn für seine Retter – die TierschützerInnen, hier in Deutschland und in Italien, die keinen einzigen ihrer Schützlinge aufgeben, so schwer vermittelbar sie auch scheinen mögen.
Mein Appell an alle: Warum seid ihr im Tierschutz tätig? Oder noch viel besser: Warum seid ihr es nicht?
Irgendwann am Lebensabend im Bett zu liegen und zu wissen, dass man zwar nicht die ganze Welt retten konnte, dafür aber die ganze Welt eines Tieres, ist ein Gedanke, mit dem man Lebewohl sagen kann…